Von wegen: Primat der Politik!? Die wollen gar nicht entscheiden.
Politiker wollen nicht regieren. Scheinheilige Politiker beklagen, dass die „Märkte“ inzwischen das Kommando übernommen haben. Richtig ist: Die aktuelle Regierung in Berlin sitzt Probleme solange aus, bis sich eine „alternativlose“ Situation ergibt. Von Gestaltungswillen ist keine Rede mehr.
Das aktuelle Bundesverfassungsgerichtsurteil zum ESM steht in einer unrühmlichen Reihe. Seit Jahren weigern sich Politiker in Deutschland Entscheidungen zu treffen, da man Angst vor den Wählern, und vor deren Reaktionen nach Entscheidungen hat. Die Exekutive verzichtet damit auf ihr vornehmstes, ihr gestaltendes Recht. Der Primat der Politik wird nur noch von einigen wenigen Linken mit einem eher romantischen Politikverständnis gefordert. Pragmatiker an der Macht haben sich längst mit der Situation arrangiert und lassen sich zu Entscheidungen treiben oder zwingen.
Der Politiker und seine Karriere
Die meisten politischen Akteuere benötigen oder suchen Hilfestellungen bei der Entscheidungfindung. Das übernimmt entweder der Verfassungsgericht oder die Finanzmärkte geben den Takt vor. Das ist symptomatisch für Politmanager heutiger Prägung, aber auch für die gesamte Gesellschaft: Niemand will mehr Verantwortung übernehmen. Im Finanzsektor sieht es nicht besser aus. Dort werden Risiken hin und her geschoben und am Ende hat im Zweifel eine Landesbank in Nordrhein-Westfalen als „nützlicher Idiot“ das Risiko im Portfolio.
Harte Entscheidungen könnten die eigene Karriere behindern. Da bietet es sich für Politiker an, das Verfassungsgericht als unabhägige Institution zu instrumentalisieren. Denn haben die Karlsruher entschieden, dann muss man ja agieren und hat in der Sache eine Ausrede gegenüber dem Bürger parat. Dieses Verhalten der aktuellen Politikergeneration ist genauso absurd wie die alte Redensart: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!“
Politiker verlassen sich auf die Verfassungsrichter
Da werden mal Steuergesetze so formuliert, dass die Steuerbescheide nichts rechtskräftig werden können. Selbst bei Hartz IV sind die Prozesse einkalkuliert und die Staatsvertreter lassen sich zum Beheben offensichtlicher Gerechtigkeitslücken gegenüber Kindern erst zwingen. Das ist höchst peinlich und für den Fortbestand der Demokratie so nicht akzeptabel. Mal abgesehen von den Kosten und den Zumutungen für die Betroffenen. Aber diese Herangehensweise hat längst Methode im politischen Berlin.
Gelegentlich verstoßen die Parteien und ihre Vorturner auch noch mit voller Absicht gegen die Verfassung. Das ESM-Urteil regelt einen derart offensichtlicher Verstoß gegen Parlamentsrechte, dass man den Verfassungsbruch der Bundesregierung als vorsätzliches Mißachten werten muss. Wäre nicht ohnehin Dauerkrise in der Regierung, dann müsste man jetzt eine Regierungskrise ausrufen. Dass die Opposition das nicht tut, spricht ebenfalls Bände, denn dann müssten Sozialdemokraten vielleicht selbst bald Verantwortung übernehmen. Aua.
Da wundert es kaum, dass ausgerechnet von Kult-Horst Seehofer die schärfste Kritik zu hören war: die schwarz-gelbe Regierung sei „unglaublich“ häufig verurteilt worden, „parlamentarische Rechte zu berücksichtigen“. Die Bundesregierung müsse künftig „darauf achten, dass sie nicht pausenlos vom Bundesverfassungsgericht korrigiert wird“. Aha.
Die aktuelle Krise
Das Verhalten der Bundesregierung zeigt in der Tat ein fragwürdiges Demokratie- und Parlamentsverständnis. Man hätte das bei der heutigen Bundeskanzlerin schon vor sieben Jahren ahnen können. Damals wollte Angela Merkel noch „durchregieren“. Davon ist der Gestaltungsanspruch der Politikerin zuerst verschwunden. Jetzt fährt die Kanzlerin auf Sicht und löst Probleme erst, wenn sie nicht mehr „aussitzbar“ sind. Bewundern kann man die Folgen solch einer fatalen Politik in der Staatsschuldkrise im Euroraum. Wenn das System zusammenzubrechen droht, kann man Schulden vergemeinschaften, denn man hatte keine Handlungsalternative mehr. So ist aus einem zeitweisen Rettungsschirm ein permanenter Rettungsschirm geworden. Der größte Hedgefonds der Welt. Die Garantien Deutschlands belaufen sich dort bereits auf 190 Milliarden Euro.
Die „alternativlose“ Regierung
Zurzeit hat Deutschland nicht mal ein verfassungskonformes Wahlrecht zum Durchführen einer Bundestagswahl. Die aktuelle Regierung spielt auf Zeit in einer der elementarsten Demokratiefragen überhaupt: „Es wäre Aufgabe der Politik gewesen, rechtzeitig und möglichst einvernehmlich ein neues Wahlgesetz vorzulegen“ kritisierte Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle kürzlich die Regierenden. Vermutlich hatte die Regierung im Juni 2012 auf einen rechtsverbindliche Regelung aus Karlsruhe gehofft. Jetzt wird es bis zur nächsten Wahl 2013 knapp mit einem gerichtsfesten Wahrecht. Denn selbst Nachdenken und Entscheiden ist nicht die Stärke der Regierenden in diesem Land. Bis dahin bleibt die Regierung managels Wahlrecht „alternativlos“.
Die unvollständige Liste des politischen Versagens in einigen älteren Artikeln:
Morgen ist Bundestagswahl (SZ-Kommentar von Heribert Prantl vom 4. Juni 2012)
Karlsruhe bremst Geheimgremium für Euro-Hilfen (Focus vom 28. Februar 2012)
Neuer BFH-Präsident hält Erbschaftssteuer für verfassungswidrig (dapd vom 2.11.2011)
Verfassungsrecht: Gericht prüft Hartz IV für Kinder (Zeit-Artikel vom 20.10.2009)
Pendlerpauschale vor Gericht: Auf der Kippe (TAZ vom 11.09.2008)
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