Herr Steinmeier: Unfug wird nicht richtiger durch ständiges Wiederholen
Frank-Walter Steinmeier verteidigt die Reformagenda der Regierung unter Gerhard Schröder. Er zeigt in einem SZ-Interview, dass er nichts gelernt hat. Schade.
Die SPD hatte mit 23 Prozent unter dem Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier den historischen Tiefpunkt ihrer Existenz erreicht. Die Sozialdemokraten hatten zuvor in einer großen Koalition mit der CDU regiert. Steinmeier war nach der Wahl nicht bereit, die Konsequenzen seiner Wahlniederlage zu tragen und ernannte sich in einem Handstreich zu einem unverzichtbaren Leader in seiner Partei. Mancher Linker ballte die Fäuste in den Taschen und schwieg doch. Steinmeier war nicht nur ein beliebter Außenminister, sondern auch als Kanzleramtsminister unter Schröder der Architekt der Agenda 2010 gewesen.
Was die Agenda brachte
Die Agenda 2010 steht heute für einige richtige Weichenstellungen, aber auch für katastrophale Fehllenkungen. Die Reform der Bundesanstalt für Arbeit zu einer moderneren Dienstleistungsagentur war ohne Frage richtig und auch die Einführung der Rente mit 67 durch Arbeitsminister Franz Müntefering steht heute auf der Habenseite. Zu den falschen Entwicklungen gehört der Verzicht auf das Einführen eines Mindestlohns, während der ökonomische Druck durch die Reform des Arbeitslosengeldes erkennbar zunahm. Dadurch etablierte sich ein Niedriglohnsektor, der jetzt dauerhaft vom Staat via Aufstockerleistungen subventioniert wird. Die Architekten der Agenda hatten einfach regelmäßige Evaluierungsprozesse vergessen. Nicht erwähnt werden bei Rückschauen die Hundertausenden berechtigten und weniger hoffnungsvollen Prozesse, die jedes Jahr um Leistungen der Arbeitsagenturen geführt werden. Eine tolle Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Juristen. Auch ein Auswuchs der hoffnungslos überschätzten Reformagenda.
Je nach politischer Gesinnung sucht man sich die Daten raus, welche die eigene Weltsicht stützen. Professor Hüther vom IW Köln spricht dann gerne von der Evidenz der Daten. Naja.
Steinmeiers zurechtgelegte Wahrheit
Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung behauptete Steinmeier, dass die Reformagenda einen Niedergang Deutschlands wie in Italien, Spanien oder Frankreich verhindert habe. „Wenn Schröder damals so mutlos regiert hätte wie Angela Merkel heute, stünden wir jetzt in einer Reihe mit Italien, Frankreich und Spanien vor deutlich größeren Problemen inmitten der Euro-Krise“, sagte Steinmeier der Süddeutschen Zeitung. Das ist der typische Unfug, den Politiker äußern, um ihr eigenes Handeln in das rechte Licht zu rücken. Richtig ist: Die Weltkonjunktur wäre Mitte der 2000er-Jahre auch ohne die Agenda angezogen und das deutsche Exportmodell hätte auch ohne Reformen die Arbeitslosigkeit reduziert. Auch hat die damalige Bundesregierung die Arbeitslosenstatistik zu den eigenen Ungunsten umdefiniert. Das diente zur Rechtfertigung der Einschnitte.
Zu seiner Ehrenrettung: Steinmeier spricht im Interview auch von Auswüchsen als Folge der Agenda Politik. Aber: Die Fehler lagen natürlich nicht bei den Politikern, sondern bei denjenigen, die Lücken im System ausnutzten. Als Beispiel für Fehlentwicklungen führt Steinmeier die Leiharbeit an.
Zudem gibt sich Steinmeier stolz auf seine Partei, welche die Agenda trotz Austritten mitgetragen hat. Er verschweigt, dass hinter den Kulissen die verbliebenen Linken seiner Partei systematisch von ihm selbst kleingehalten wurden. Die ehemalige Volkspartei SPD hat auf das Know-how des linken Spektrums der Parteimitglieder verzichtet. Später wurden dann notwendige Korrekturen von Steinmeier und Müntefering behindert mit dem Argument, man wolle die Büchse der Pandora nicht öffnen. Das gnadenlos niedrige Schonvermögen bei Hartz-IV-Bezug beispielsweise erhöhte erst die FDP, nachdem die Liberalen 2009 in die Regierung eingezogen waren. An all diese Details erinnert sich Steinmeier nicht nach zehn Jahren Agenda-Rede von Gerhard Schröder.
Mobilisierungsfaktor Kandidat
Vielleicht lernt die Spitze der SPD ja aus einer erneuten Wahlniederlage. Deren Kanzlerkandidat Peer Steinbrück – ein anderer prominenter Befürworter der Reformagenda – gibt sich jedenfalls seit Wochen alle Mühe, seine Partei in ein noch schlechteres Wahlergebnis zu führen. Zur Stellenbeschreibung eines SPD-Kanzlerkandidaten gehört es eben auch, die eigenen Mitglieder mitzunehmen. Rechthaber wie Steinbrück und Steinmeier sind jedenfalls nicht qualifiziert.
NACHTRAG
Jürgen Trittin in einem Interview mit der Hannoverschen Neue Presse.
SZ-Interview mit Jürgen Borchert, der beim Verfassungsgericht für neue Hartz-IV-Sätze gekämpft hat.